Impressionismus in Holland und das Wetter in der Haager Schule
Der Begriff „Haager Schule“ bezeichnet die niederländische Landschaftsmalerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese Phase wird auch das zweite Goldene Zeitalter der niederländischen Malerei genannt, denn die Haager Schule vertrat zwar die impressionistische Auffassung der Natur, bezog sich aber gleichwohl auf die großen Meister des 17. Jahrhunderts.
Während aber die Landschaftsmaler des 17. Jahrhunderts ihre Landschaften sorgfältig komponierten und sie aus einzelnen, realistisch wiedergegebenen Elementen zusammensetzten, also „erfundene Realitäten“ 1Hedinger (2001); Ossing/Brauer (2006) auf die Leinwand brachten, war der Ansatz der Haager Schule radikal anders. In Anlehnung an den sich Bahn brechenden Realismus der französischen Maler des 19. Jahrhunderts strebten sie einen unmittelbaren Zugang zur Natur an. Dieser Realismus darf nicht als Versuch der geradlinigen Abbildung des Gesehenen verstanden werden, sondern als Wiedergabe der Empfindungen der Künstler angesichts einer nichtidealisierten Umwelt. Es ist also eine Abkehr von romantischer Naturauffassung. Der Impressionismus in Holland hat seine Wurzel in der Haager Schule.
Wind, Wolken, Sonne, Regen, Hitze und Kälte – das bewusste Erlebnis des Wetters prägte diese neue Generation von Künstlern, die ab etwa 1850 ihren Blick auf die Natur richtete. Dank moderner Hilfsmittel wie fertig gemischter Tubenfarben und tragbarer Kastenstaffeleien konnten sie ihre Landschaftseindrücke unmittelbar vor ihrem Motiv auf die Leinwand bringen. Sie setzten sich direkt dem jeweiligen Wetter aus. Die Empfindungen, die damit verbunden waren, sollten in ihren Gemälden nachvollziehbar zum Ausdruck kommen. Ihr Ziel war also nicht eine photographisch präzise Darstellung der Landschaft, sondern die Wiedergabe der besonderen Atmosphäre bei ganz konkreten Wetterlagen. Die Betrachter ihrer Gemälde sollten somit in ihrer Phantasie Ähnliches empfinden wie die Maler beim Arbeiten in der Natur.
Die Ausstellung des Museums Barberini Potsdam Wolken und Licht. Impressionismus in Holland trägt daher einen programmatischen Titel. Das Licht prägt unseren Eindruck von der Landschaft, und Wolken, so der amerikanische Meteorologe S.D. Gedzelman, sind ihre Seele. 2Gedzelman (2014)
Zwei Jahrhunderte Tradition
Meteorologische Erscheinungen, das Wetter in seiner gesamten Vielfalt, drückte bereits den Gemälden der Meister des 17. Jahrhunderts seinen Stempel auf. Dabei stellte die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts einen revolutionären Durchbruch dar, denn sie überwand den Weitwinkelblick der überbrachten Weltlandschaften und stellte die Proportionen so dar, wie das menschliche Auge die Welt sieht. Stillleben, Landschaften und die vergleichsweise seltenen Porträts folgten dem menschlichen Maß. Das kann darauf zurückzuführen sein, dass im 17. Jahrhundert sich die modernen Wissenschaften mit ihrer profan-realistischen Erklärung der Welt Bahn brachen und in der damals wohl modernsten Nation der Welt, den Vereinigten Provinzen, mit ihrer vergleichsweise offenen Gesellschaft Fuß fassen konnten. 3Ausführlich in Ossing (2019), (2014)
Den Malern der Haager Schule war sehr bewusst, in welcher Tradition sie standen und sie bezogen sich direkt auf die alten Meister. Nur komponierten sie nicht die Natur zu einem Gemälde, sondern transformierten die reale Welt in eine empfindungsstarke Abbildung. Daher geben uns diese Gemälde noch heute Auskunft darüber, welches Wetter im Moment ihrer Entstehung herrschte. Wir wollen im Folgenden versuchen, das Wetter in einigen Gemälden der Haager Schule mit der meteorologischen Realität zu vergleichen.
Das Leben an der See
Die Niederlande sind vom Meer geprägt, eine lange Küstenlinie und das vom Meer, also der Nordsee und dem Atlantik herein kommende Wetter bestimmen das Leben. Die Maler der Haager Schule nahmen das ganz selbstverständlich als Thema ihrer Auseinandersetzung mit der Natur auf. 4Ausführlich in Hartwig (2023a)
Im Gemälde Muschelfischer (1885) von Jacob Maris warten zwei Einspänner mit Karren im Watt darauf, mit Muscheln beladen zu werden (Abb. 1). Zwei Fischer mit den typischen Muschel-Forken holen die Schalen aus dem Schlickboden, die dann in Kalköfen zu Baumaterial gebrannt werden. 5 M. Philipp, pers. Information Aug. 2023 Muscheln werden in seichtem, flachen Wasser gesammelt. Für Holland bedeutet das: im Wattenmeer bei Ebbe. Auch die Möwen am Himmel wissen das zu schätzen, sie können im Watt Futter erbeuten.
Zweimal pro Tag ergibt sich für die Fischer die Möglichkeit, Muscheln zu sammeln. Die Arbeit im Wattenmeer beruht auf der Beobachtung der Natur. Die Zeiten von Ebbe ud Flut sind zu beachten, auch die Lage der Gezeitenrinnen und Priele zu kennen ist wichtig, denn das auflaufende Wasser bei einsetzender Flut füllt diese schnell und kann den Rückweg abschneiden. Das Wetter auf dem Bild zeigt windiges Wetter. Eines der beiden auf dem Watt liegenden Boote hat sein Segel gerefft. Die Segel des zweiten Boots zeugen von turbulentem Wind. Selbst die flachen Wellen im Watt zeigen weiße Kämme. Es weht also eine steife Brise.
Die aufgetürmten Haufenwolken passen zu diesem Wetter. Aus der Cumuluswolke 6Alle Bezeichnungen der Wolken, ihrer Unterarten und Begleiterscheinungen folgen dem „International Cloud Atlas“, Vol. II, der World Meteorological Organization WMO (Genf, 1987) am rechten Bildrand fällt Regen, wie die Graufärbung darunter andeutet. Frisch eingeflossene maritime Luft mit instabiler vertikaler Schichtung der Atmosphäre führt zu einer solchen Wolkenbildung. Böiger Wind, gerade in Küstennähe, Schauerwolken und ein Sonne-Wolkenmix sind die prägenden Elemente bei diesem Wetter. Auffallend ist, dass Maris, wie auch die holländischen Meister des 17. Jahrhunderts, die Wolken zum Horizont hin überproportional groß darstellt. Auch in der Darstellung des Alltagslebens ist der Bezug auf die Tradition überdeutlich, wie als Beispiel ein Vergleich mit Jan Porcellis‘ Gemälde (1622) in Greenwich zeigt, das ebenfalls die tägliche Arbeit der Fischer und Muschelsammler im strandnahen Wattenmeer zum Gegenstand hat.
Ein weiteres Gemälde von Maris zeigt ein Fischerboot, das bei Ebbe auf dem Schlick des Wattenmeers liegt. (Abb. 2) Es ist ein Flachbodenboot, eine bomschuit. Diese Schuten wurden den Strand hinaufgezogen und konnten bei Flut leicht wieder ins Wasser gebracht werden. Bomschuiten wurden seit dem 17. Jh. in der küstennahen Fischerei eingesetzt. An der Spitze des Bootsmasts weht eine kleine Flagge waagerecht im Wind. Am linken Bildrand geht ein Muschelsammler seiner Arbeit nach. Wie der gestreckte Wimpel anzeigt, weht der Wind mit vier, in Böen vielleicht sogar mit fünf Windstärken. Es herrscht unbeständiges Wetter. Am Horizont, zwischen Schiff und Fischer, ist diffus ein Regenschauer zu erkennen. Die Quellbewölkung bedeckt den Himmel fast vollständig. Lediglich am linken oberen Bildrand erlaubt ein kleines Fenster den Durchblick auf den blauen Himmel. Direkt darunter zeigt ein kleiner dunkelgrauer Wolkenfetzen das regnerische Wetter an. Solche Wolkenfetzen tragen den meteorologischen Fachbegriff „Pannus“, lateinisch für Lappen, Fetzen und treten häufig als Begleitwolken bei Schauern auf. Sie sind ein guter Indikator für böiges Wetter. Auch im rechten Bildteil sind einige solche zerrissenen Wolkenteile angedeutet.
Ein weiter Himmel über flacher Landschaft
Die holländische Flachlandschaft fordert nahezu zwingend einen Blick an den weiten und hohen Himmel. Die Meister des 17. Jh. räumten konsequent dem Himmel bis zu drei Viertel der Gemäldefläche ein und behandelten das Geschehen am Boden schon fast zweitrangig. Im Gegensatz dazu machten die Malerinnen und Maler der Haager Schule es 200 Jahre später zu einem bestimmenden Teil der Darstellung. Aber auch sie räumten dem Himmel zwei Drittel der Gemäldefläche ein.
Willem Roelofs stellt eine Landschaft in der Umgebung von Den Haag, bei Stompwijk, dar. 7M. Philipp, pers. Information Aug. 2023 (Abb. 3) Es ist früher Herbst, die Bäume am rechten Bildrand tragen bereits gelblich gefärbtes Laub, ebenso auch einige der Sträucher des Gebüschs, das sich von links bis über die Mitte des Gemäldes erstreckt. Der Schattenwurf der Bäume lässt auf die Tageszeit schließen. Die Sonne steht im Frühherbst bereits niedriger als im Sommer. Dennoch werfen die Bäume keine langen Schatten. Wir können also von früher Nachmittagszeit ausgehen. Es hat geregnet, eine große Pfütze liegt auf dem Weg. Die Wolken jedoch zeigen keinen Niederschlag an, der Regen muss also vorher gefallen sein. Der Wind weht von rechts nach links, also etwa aus westlicher bis nordwestlicher Richtung. Auch die Windmühle am Horizont hat ihre Flügel in diese Richtung gedreht.
Eine solche Wettersituation entsteht nach dem Durchzug einer Kaltfront. Diese brachte den Regen. Jetzt hat sich das Wetter beruhigt. Der Wind weht schwach bis mäßig. Auch das schlaff herabhängende Segel des Boots am Horizont zeigt das an. Die dargestellten Cumuluswolken sind in mehreren Bändern angeordnet. Quer zur Blickrichtung verlaufen die dunklen Wolkenunterseiten parallel zueinander bis zum Horizont. Diese Wolkenbänder folgen der Windrichtung. Solche Wolkenstraßen sind bei dieser Wetterlage gerade in Küstennähe oft zu beobachten. Regenbögen sind in der niederländischen Malerei des 17. Jh. selten zu finden, Gemälde wie Jacob van Ruisdaels Darstellung dieses Phänomens atmosphärischer Optik (Der Judenfriedhof, Dresden und Detroit) bilden die Ausnahme. Die unverstellte Herangehensweise der Haager Schule an die natürliche Umwelt zeigt sich hier besonders deutlich, und Willem Roelofs machte sich das Farbenspiel im Regenbogen zu eigen (Abb. 4).
Aus einer großen Schauerwolke fällt kräftiger Regen, vor dem sich halbkreisförmig ein Regenbogen aufspannt. Bereits im 17. Jahrhundert beschrieb der französische Philosoph René Descartes erstmals die Strahlenoptik des Regenbogens. Aber erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts konnte der britische Physiker Isaac Newton die Entstehung des Farbspektrums im Regenbogen zufriedenstellend erklären.
Wer auf einen Regenbogen schaut, hat stets die Sonne im Rücken. Das weiße Sonnenlicht wird von den Regentropfen gebrochen, dabei in seine Farbanteile zerlegt und zum Auge des Betrachters zurückgespiegelt. Beim Hauptregenbogen ist dabei das kurzwelligere blaue Licht innen, das langwelligere Rot außen. Bei klarem Licht sieht man oft auch einen schwächeren Nebenregenbogen. Dieser liegt weiter außen und hat die Farbanordnung von Blau zu Rot genau umgekehrt (Abb. 4). Auf Willem Roelofs‘ Gemälde ist kein zweiter, äußerer Regenbogen dargestellt.
Es ist Spätsommer oder früher Herbst, wie das Laub der Bäume zeigt. Die Nachmittagssonne scheint durch eine Wolkenlücke und wirft eine deutlich sichtbare Licht-Schattengrenze auf die Wiese. Wir blicken nach Osten, der Wind treibt den Regen aus nördlicher Richtung heran. Ein Kaltlufteinbruch um diese Jahreszeit ist für ein solches Schauerwetter verantwortlich. Je klarer die Luft, desto brillanter leuchten die Farben des Regenbogens. Roelofs‘ Gemälde zeigt uns also Wetter mit frisch aus dem Norden einfließender polarer Meeresluft.
Stadtansichten
Am Beispiel zweier Stadtansichten lässt sich zeigen, wie die Haager Schule die historischen Vorgaben aufnahm, sie zugleich aber auch ihrer Sicht der Welt anpasste. 8Ausführlicher dazu: Philipp (2023a) Jan Hendrik Weissenbruch malt den Blick auf Haarlem von den Dünen westlich der Stadt (Abb. 5). Mit seinem Gemälde zitiert Weissenbruch die meteorologisch sehr präzisen Ansichten von Jacob van Ruisdael. 9vgl. Ossing (2002) Der Blick führt genau nach Süden. Die St. Bavo-Kirche wird von der Sonne aus Nordwesten beschienen. Es ist also ein später Nachmittag im Sommer. Der Wind weht aus westlicher Richtung, wie die Rauchfahnen der vier großen Schlote erkennen lassen. Die Wolke der Dampflok im Mittelgrund, unterhalb der Kirche, weist auf eine Wetterlage mit schwachem Wind hin, denn sie behält ihre geschlossene Form und wird nicht durch turbulenten Wind zerfleddert.
Am Himmel sind mäßig entwickelte Cumuluswolken zu sehen. Die Sicht bis zum Horizont ist klar und nicht durch Dunst getrübt. Dennoch zeigt der Himmel zwischen den Wolken kein reines Blau, er ist weißlich eingefärbt. Das verweist auf einen leichten Wolkenschleier im mittleren oder hohen Atmosphärenniveau. Windrichtung und Wolkenbild sprechen für ein flaches Hoch zwischen zwei Tiefdruckgebieten in einer lebhaften Westströmung Die Himmelsfärbung und die schwache vertikale Entwicklung der Haufenwolken zeigen an, dass es sich nicht um frisch eingeflossene polare Meeresluft handelt. Wir haben es hier mit einer gealterten maritimen Luftmasse zu tun. Diese kann entweder aus den Subtropen oder dem Sub-Polargebiet stammen. Sie wandelt ihren Charakter auf ihrem langen Weg über das Ozeanwasser, das heißt, sie altert: die sie bestimmenden Wetterparameter wie Temperatur, Feuchtegehalt, Wolkenart und –menge etc. sind daher durch das wärmere Meer entsprechend verändert worden.
Weissenbruch steht also Ruisdael rund 200 Jahre später an Schärfe der meteorologischen Beobachtung nicht nach. Aber er blickt auf die Stadt, wie sie sich in den 1840er Jahren darstellt, die symbolträchtigen Leinenbleichen des Jacob van Ruisdael sind durch profane Kuhweiden ersetzt, und auch der mit dem Eisenbahnzug gegebene Hinweis auf die Neuzeit ist nicht zu übersehen.
Einen anderen Ansatz wählt Johan Barthold Jongkind in seiner Ansicht von Delft (Abb. 6). Er löst sich vollständig vom ikonischen Vorbild des Jan Vermeer. Er setzt gegen die kompositorische Konstruktion Vermeers eine Real-Vedute der Stadt. Eindrucksvoll erhebt sich der Turm der Alten Kirche, der Oude Kerk, aus der Silhouette der Stadt Delft. Links davon erkennt man den kleineren Turm der Neuen Kirche, der Nieuwe Kerk. Damit wird klar: wir schauen in süd-südöstliche Richtung auf die Stadt. Der große Turm der Kirche wird nur im unteren Teil von der Sonne beleuchtet, der obere Teil liegt im Schatten einer Wolke. Auch die Stadt selbst liegt im Wolkenschatten. Der Stand der Sonne zeigt, dass es Nachmittag ist, denn sie steht im Westen. Zwei Segelboote liegen auf dem in die Tiefe führenden Gewässer, der Vliet, einem Teil des Rhein-Schie-Kanals, der durch Delft führt.10M. Philipp, pers. Information Aug. 2023 Eines wird vom Sonnenschein illuminiert, das andere, etwas weiter entfernt, befindet sich im Schatten.
Aus dieser Licht-Schatten-Verteilung am Boden erklärt sich das Wetter. Über der Stadt türmt sich eine mächtige Haufenwolke auf. Es herrscht Schauerwetter, aus dieser Cumulus-Wolke geht ein kräftiger Regenguss nieder. Dahinter sieht man weitere, gleichartig große Cumuluswolken. Am linken Bildrand ist eine weitere Haufenwolke zu erkennen, deren oberer Rand bereits etwas zerfasert wirkt. Sie hat also den Höhepunkt ihrer Entwicklung bereits überschritten, dabei ihren Niederschlag weitgehend abgeregnet und zerfällt. Auch die dunkel gefärbten Wolkenfetzen am rechten oberen Bildrand gehören zu einer sich auflösenden, großen Wolke. Sie wirken zerrissen. Wenn Schauerwolken ihre scharfen Konturen verlieren, befinden sie sich im Zerfallsstadium. Diese Beobachtungen lassen auf einen Kaltlufteinbruch schließen. Die eingeflossene kühle, subpolare Meeresluft ist vertikal labil geschichtet. Das führt zur Entwicklung kräftiger Schauerwolken hinter der bereits durchgezogenen Kaltfront. Meteorologen nennen dieses Phänomen „Rückseitenwetter“.
Windkraft: moderne Technik seit dem 17. Jahrhundert
Es gibt kaum ein Bauwerk, das so ikonographisch für eine Nation steht wie die Windmühlen für die Niederlande. Die Kraft des Windes auszunutzen, ist eine der ältesten Energietechnologien der Menschheit, aber nirgendwo haben Windmühlen einen solchen identitätsstiftenden Sinngehalt gefunden wie in den Niederlanden. 11Auführlich dazu: Philipp (2023b) Sie sind dort seit dem 14. Jahrhundert verbreitet. Das hat einen wichtigen Grund: Große Teile Hollands liegen unter dem Meeresspiegelniveau, zum Beispiel Teile der Zuiderzee, aber auch das Haarlemer Meer. Diese Gewässer wurden mit Deichen abgedämmt. Dann wurden sie leergepumpt – mit Hilfe der Windkraft, welche die Schöpfräder antrieb. Holländische Windmühlen waren also hauptsächlich Pumpwerke. Ihre Daueraufgabe war die kontinuierliche Entwässerung von Flächen. Auch heute noch finden sich in den Niederlanden über eintausend Windmühlen, von denen einige immer noch Wasser pumpen. Die eingedeichten, durch Abpumpen neu gewonnenen Landflächen heißen Polder.
Das Gemälde von Jan Hendrik Weissenbruch Polderlandschaft mit Mühlen (Abb. 7) zeigt einen Polder-Entwässerungskanal. Zwei Bockwindmühlen pumpen das Wasser aus dem Polder. Vielleicht kontrolliert der Reiter auf dem Polderdeich gerade den Zustand des Damms. Über ihm spannt sich ein Himmel aus Stratocumuluswolken. Dieser macht deutlich, dass nicht nur nachdrängendes Wasser, sondern auch die Regenfälle mit ihren Niederschlagsmengen abgepumpt werden mussten. Der Wind weht nur schwach, wie die nahezu unbewegte Wasseroberfläche andeutet. Auch die Stratocumulusbewölkung spricht für ruhiges Wetter.
Polderböden sind fruchtbar, aber schwer und häufig salzhaltig. In Holland eignen sie sich vorrangig für Grünland. Weidende Kühe liefern die Milch für den berühmten Holländerkäse und Fleisch. Für Getreideanbau sind Polder meist nicht geeignet. Bereits im 17. Jahrhundert führte Holland daher sein Getreide aus dem Ostseeraum ein. 12North (2001) Hier wurde es dann in Windmühlen gemahlen. Ebenfalls von Jan Hendrik Weissenbruch stammt Der Blick auf drei Mühlen (Abb. 8). Die hier dargestellten Windmühlen zeigen eine modernere Konstruktion. Es sind Steinbauten, bei denen nicht die gesamte Mühle, sondern nur ihr Kopf in den Wind gedreht werden muss. Die umlaufende Bedienfläche führte zur Bezeichnung „Galerie-Windmühle“. Seit dem 17. Jahrhundert verdrängte sie in Holland und Norddeutschland die Bockwindmühle. Solche innerstädtischen Mühlen mahlten häufig Getreide. Sie wurden in Holland aber auch für das Mahlen von Senf- und Ölsaat, als Antrieb für Sägewerke und zur Herstellung von Papier eingesetzt. Windkraft war die Technologie vor Beginn der Industrialisierung.
Die Steinerne Mühle von Jacob Maris (Abb. 9) stammt aus dem gleichen Jahr wie die beiden Mühlen-Darstellungen von Weissenbruch. Diese Galeriemühle steht am Rand einer Ortschaft. Im Bildaufbau bezieht sich Maris auf die berühmte Darstellung der Mühle von Wijk bij Duurstede von Jacob van Ruisdael. Wie bei Ruisdael findet sich auch hier im rechten Vordergrund, an hervorgehobener Stelle im Bild, ein Mühlstein. Er kennzeichnet den Zweck der Mühle, das Mahlen von Getreide. Das geht nicht ohne Wind, der die dichten Cumulus-Wolken über den Himmel bewegt. Wie bei Ruisdael bedecken sie fast den gesamten Himmel. Diese Wolken, die Segeltücher an den Windmühlenflügeln und die Vögel machen den Wind in der flachen Landschaft sichtbar. Der Wind ist nicht besonders stark, denn die Segel an den Flügeln sind nicht straff gespannt, sondern hängen schlaff herunter. Auch die Cumulusbewölkung steigt nahezu senkrecht auf, was für schwachen Wind und nur geringe Änderung der Windgeschwindigkeit mit der Höhe spricht.
Von Den Haag in die Moderne
Die Haager Schule, so lässt sich festhalten, stellt den Ausgangspunkt für den holländischen Impressionismus und, darüber hinausgehend, des Amsterdamer Neo-Impressionismus und die Moderne dar. 13Ausführlich in Hartwig (2023b), Barentsen (2023) Mit drei Beispielen wollen wir nachvollziehen, wie sich die Wiedergabe des Wetters in der Landschaft auf diesem Weg änderte. Vincent van Gogh wurde durch die Haager Schule geformt. So weist sein Gemälde Blumenbeete in Holland (Abb. 10) zwar noch die gedeckten Farben der Haager Künstler auf, aber es deutet sich hier bereits sein grundsätzlich neuer Zugang zur Farbigkeit an. Holland und Blumenhandel stehen synonym füreinander. So zeigt van Goghs Gemälde eine alltägliche Szene: für den Handel angebaute Blumen, regelmäßig in rechtwinkligen Beeten angeordnet, jedes Beet monochrom mit einheitlichem Pflanzentyp. Zwischen diesen bunten Farbteppichen geht der Gärtner und inspiziert seine Pflanzen. Alltagsszenen wie diese gehörten zu den Lieblingssujets van Goghs.
Auch der Himmel entspricht dieser unaufgeregten, schon fast eintönigen Szenerie. Van Gogh bedeckt den Himmel mit den gewöhnlichsten aller Wolken, den Schichthaufenwolken. Diese Wolkentyp, meteorologisch Stratocumulus, ist eine Alltagswolke, die weder gutes noch schlechtes Wetter darstellt noch eine Wetteränderung ankündigt. Die Weltmeteorologie-Organisation WMO hält fest, dass Stratocumulus der Wolkentyp ist, der weltweit am häufigsten vorkommt. Genauer betrachtet, weist der Himmel im Gemälde zwar Wolkenlücken auf, dennoch liegt die Landschaft, wie für diesen stratiformen Wolkentyp charakteristisch, im Wolkenschatten. Den Gesetzen der atmosphärischen Optik folgend, sollten also auch die vom Meister dargestellten Hyazinthenfelder gedämpfte Farben aufweisen. Van Gogh jedoch lässt ihnen eine eigene farbliche Strahlkraft zukommen, in der sich die ausgeprägte Farbigkeit der späteren Landschaftsdarstellungen van Goghs bereits andeutet.14vgl. dazu Ausst.Kat. Bremen 2002
Piet Mondrians Windmühle am Abend von 1917 (Abb. 11) löst die Naturnähe durch eine Konzentration auf Strukturen auf. Es ist früher Abend, der Beobachter schaut in die untergehende Sonne oder den aufgehenden Mond. Im Gegenlicht des Himmelskörpers erscheint die Windmühle als Silhouette. Die Flügel sind nicht mit Segeltuch bespannt, das freigelegte Gitterwerk der einzelnen Mühlenflügel unterstreicht das nahezu grafische Konzept. Auch das Himmelsbild ist durchstrukturiert. Die dargestellten Wolken zeigen einen ruhigen Himmel an. Schäfchenwolken (Altocumuli) bedecken mit einem flächendeckenden Muster den Himmel. Die Ränder dieser Wolken lassen das Sonnenlicht zum Betrachter durchscheinen. Die Streuung des Lichts am Wolkenrand erzeugt einen hellen, strahlenden Kranz, während der Wolkenkörper selbst hinreichend dicht und daher lichtundurchlässiger ist. Deshalb erscheint er dunkel. Piet Mondrian überhöht diesen Effekt bei einigen dieser Wolken, er trägt in der Wolkenmitte noch eine weitere, dunklere Färbung auf. Altocumuluswolken treten im mittleren Stockwerk der Atmosphäre auf, das in unseren Breiten im Niveau zwischen etwa zwei und sieben Kilometern Höhe liegt. Bevorzugt finden sich solche Schäfchenwolken im Bereich von 2500 bis 3500 Metern Höhe. Eine meteorologische Daumenregel lautet, dass Altocumuli häufig eine Wetteränderung andeuten.
Die grundsätzliche Abkehr von der naturnahen Landschaftsdarstellung der Haager Schule wird besonders deutlich in Jan Sluijters‘ Landschaft bei Laren mit Radfahrern (Abb. 12). Am späten Nachmittag steht die Sonne schon tief. Zwei Pfähle und die drei Radfahrer werfen bereits lange Schatten. Vom Horizont her erstreckt sich ein weißer Wolkenschleier über den Himmel. Regelmäßig angeordnete Wolkentupfer und ein langer Wolkenstrich liegen unterhalb dieses Schleiers. Mit ihrer Struktur und mit ihrer hellgelben Färbung dominieren sie das Himmelsbild. Altocumulus-Schäfchenwolken im mittleren Atmosphärenniveau bilden oft solche Muster aus. Zwischen ihnen ist der blaue Himmel zu sehen. Auf dem Gemälde ist das am oberen Bildrand angedeutet. Die langgestreckte Wolkenwalze ist eine Sonderform dieses Wolkentyps. Sie bildet sich in strömender Luft wie ein Wellenkamm.
Lässt sich so erahnen, welche Struktur am Himmel den Maler beeinflusste, so ist die Farbgebung im Gemälde damit noch nicht erklärt. Gerade die tiefstehende Sonne erzeugt mitunter am Himmel ein spektakuläres Farbenspiel. Wir meinen hier nicht das Abendrot, sondern die Vielzahl von Farben, die von den Wolken in den verschiedenen atmosphärischen Stockwerken in das Auge des Betrachters gesendet werden. Diese Lichteffekte sind in Sluijters‘ Gemälde Thema: nicht die Atmosphäre als solche, sondern das durch sie erzeugte Farbenspiel und die Strukturierung des Himmels.
Die Farben der Wolken erklären sich aus dem Gang des Lichts durch die Atmosphäre. Sonnenlicht ist weiß, aber auf dem Weg durch die Atmosphäre werden die Einzelfarben des Lichts durch wellenlängenabhängige Streuung unterschiedlich verändert. Die hohen Wolken erhalten um nachmittägliche Uhrzeit noch das volle Sonnenlicht. Sie erscheinen deshalb weiß. Wolken im mittleren Atmosphärenniveau zeigen bereits das gelblichere Licht des Sonnenuntergangs. Die tiefliegenden Cumuluswolken am oberen rechten Bildrand, die sich schon fast der Wahrnehmung entziehen, haben durch das Licht des späten Nachmittags bereits rot angefärbte Ränder.
Eine europäische Geschichte von Kunst und Wissenschaft
Die Landschaftsmalerei Europas hat ihre Wurzeln in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts. Sie prägte der Abbildung von Landschaft weltweit ihren Stempel auf. Mondrian und van Gogh trugen diese Tradition nicht einfach weiter, sondern setzten neue Marksteine mit ebenfalls weltweiter Wirkung. Die Haager Schule war der zentrale Ort der Auseinandersetzung mit der neuen Auffassung von Farbe und Struktur, die der Impressionismus mit sich brachte.
Im 17. Jahrhundert entstehen die modernen Wissenschaften, und seitdem bewegte die Frage „Was ist Farbe?“ die Gemüter. Das Spektrum des Lichts steht für die Physik, der Farbkreis für die physiognomische Wahrnehmung – erst im 19 Jahrhundert wurde es möglich, die Frage nach der „Farbe“ in dieser Ausprägung zu beantworten. Es sind nicht zwei gegensätzliche Darstellungsweisen des Phänomens Farbe, sondern zwei unterschiedliche Sachverhalte, nämlich einerseits die Darstellung des physikalischen Prozesses des Lichts als elektromagnetischer Prozess, und andererseits die Beschreibung seiner Wahrnehmung durch die Sinnesorgane.
Chevreuls Farbtheorie 15Chevreul (1839) und sein Farbkreis wurden bei den Malern des 19. Jahrhundert leidenschaftlich diskutiert. 16Gage (2010) Es ist anzunehmen, dass auch die physikalisch finale Erklärung der Farben des Lichts durch Maxwell 17Maxwell (1865) und die Erforschung der physiognomischen Rezeption der Farben durch Helmholtz 18Helmholtz (1867) ihren Einfluss auf die Maler des 19. Jahrhunderts hatte. Kunst und Wissenschaft, auch das ist eine Traditionslinie aus dem 17. Jahrhundert, liegen enger bei einander als es vielen bewusst ist. Der Haager Schule jedenfalls kommt in der Behandlung der Farbe auf dem Weg vom impressionistisch geprägten Naturalismus hin zur freien Entfaltung von Farbe und Form eine zentrale Rolle zu. Von hier führt ein direkter Weg in die Moderne.
Dieser Beitrag ist auf der Website des GFZ Helmholtz-Zentrums Potsdam erschienen.
Ausst.-Kat. Berlin (2001) „Die Kleine Eiszeit“, Gemäldegalerie Berlin, Red.: M. Budde, 92 S., digital unter: http://bib.gfzpotsdam.de/pub/wegezurkunst/KleineEiszeit/kleine_eiszeit.htm
Ausst.-Kat. Bremen (2002) „Van Gogh: Felder. Das Mohnfeld und der Künstlerstreit“, Hrsg. W. Herzogenrath/D. Hansen, Kunsthalle Bremen, 251 S.
Ausst.-Kat. Potsdam (2023) „Wolken und Licht. Impressionismus in Holland“, Hrsg. und Chefkurator Michael Philipp, Prestel-Verlag, München, London, New York, 312 S.
Barentsen, S. (2023): „Freie Farben, freie Formen. Ausdruck und Abstraktion“, in: Ausst.-Kat. Potsdam (2023), hier: S. 256–271
de Beer, G. (2019): „The Golden Age of Dutch Marine Painting. The Inder Rieden Collection“, Leiden: Primavera Pers, Vol. I-IV, 1384 p.
Chevreul, E. (1839): „De La Loi Du Contraste Simultané Des Couleurs“, Paris: Pitois-Levrault
Gage, John (2010): „Die Sprache der Farben. Bedeutungswandel der Farbe in der Wissenschafts- und Kunstgeschichte“, (orig. „Colour and Meaning“, London, 1999), Leipzig: Seemann-Verlag, 320 S.
Gedzelman, S.D. (2014): „The Soul of All Scenery“, online publication, Boynton Beach, FL, USA; 311 S.
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Hedinger, B. (2001): „Wirklichkeit und Erfindung in der holländischen Landschaftsmalerei“, in: Ausst.-Kat. Berlin (2001), hier: S. 11–25, digital unter: http://bib.gfz-potsdam.de/pub/wegezurkunst/KleineEiszeit/kleine_eiszeit_1.pdf
v.Helmholtz, H. (1867): „Handbuch der physiologischen Optik“, Leipzig: L. Voss
Maxwell, J.C. (1865): „A Dynamical Theory of the Electromagnetic Field, in: Philosophical Transactions of the Royal Society, London, Band 155, S. 459–512
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Ossing, F. (2019): „Between everyday clouds and embellishments of the sky – Remarks on the representation of meteorological phenomena in Dutch marine painting of the seventeenth century“, in: de Beer (2019); hier: Vol. I, S. 127-159
Philipp, M. (2023a): „Weiter Himmel über flachen Wiesen. Das Besondere der Landschaft“, in: Ausst.-Kat. Potsdam (2023), hier: S. 112–131
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WMO (World Meteorological Organization, 1987),“International Cloud Atlas”, Vol. II, Genf, 212 pp. https://cloudatlas.wmo.int/docs/wmo_407_en-v2.pdf; aktualisiert: https://cloudatlas.wmo.int/home.html
Über Franz Ossing
Franz Ossing, Autor und Wissenschaftskommunikator, war Mitorganisator des March for Science Berlin und Co-Autor der Leitlinien für gute Wissenschafts-PR. Von 1994 bis 2016 war er Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ, Helmholtz-Zentrum Potsdam.
Im Rahmen der Ausstellung Impressionismus in Holland verfasste Franz Ossing den Audioguide „Wetter und Wolken“ für die Barberini App.
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1Hedinger (2001); Ossing/Brauer (2006)
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2Gedzelman (2014)
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3Ausführlich in Ossing (2019), (2014)
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4Ausführlich in Hartwig (2023a)
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5M. Philipp, pers. Information Aug. 2023
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6Alle Bezeichnungen der Wolken, ihrer Unterarten und Begleiterscheinungen folgen dem „International Cloud Atlas“, Vol. II, der World Meteorological Organization WMO (Genf, 1987)
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7M. Philipp, pers. Information Aug. 2023
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8Ausführlicher dazu: Philipp (2023a)
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9vgl. Ossing (2002)
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10M. Philipp, pers. Information Aug. 2023
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11Auführlich dazu: Philipp (2023b)
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12North (2001)
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13Ausführlich in Hartwig (2023b), Barentsen (2023)
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14vgl. dazu Ausst.Kat. Bremen 2002
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15Chevreul (1839)
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16Gage (2010)
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17Maxwell (1865)
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18Helmholtz (1867)