Anarchie der Farbe
Vlamincks fauvistische Malerei
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VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Während viele Fauvisten dem Attribut der Wildheit ablehnend gegenüberstanden, propagierte Maurice de Vlaminck mit Nachdruck das Selbstbild eines sozialen und künstlerischen Rebellen. In seiner autobiographischen Schrift Tournant dangereux (Gefährliche Wende) stellte er sich 1929 als revolutionärer Individualist dar und hob neben seiner jugendlichen Faszination für anarchistisches Gedankengut auch seine antiintellektuelle Geisteshaltung hervor.1Siehe Vlaminck 1929. Zu Vlamincks Interesse an Anarchismus und sozialer Revolution siehe Leighten 2007; Teubner 2022.
Vlamincks Anspruch auf den Ruf eines radikalen Innovators gründet sich dabei im Wesentlichen auf den Beitrag, den er zwischen 1904 und 1908 zur Entwicklung der fauvistischen Malerei leistete – insbesondere die farbintensiven Landschaftsbilder der Jahre 1905 bis 1907, mit denen er zu einem stilistischen Vorreiter des Expressionismus wurde. In seinen Schriften wurde Vlaminck nicht müde, die Leserschaft seiner Außenseiterrolle im Pariser Kunstbetrieb zu versichern. Als stolzer Autodidakt rückte er die Rolle künstlerischer Vorbilder ebenso in den Hintergrund wie die Impulse und Anregungen, die er vom Austausch mit Kollegen hatte gewinnen können. Eine Ausnahme war Vincent van Gogh, dessen Malerei Vlaminck 1901 bei einer Einzelausstellung in der Pariser Galerie Bernheim-Jeune für sich entdeckt hatte und dessen wachsendes Renommee als missverstandenes Künstlergenie ihm offensichtlich imponierte.2Zum Einfluss Van Goghs auf die Fauvisten im Allgemeinen siehe Giry 1990, bes. S. 282–288; sowie O’Laoghaire 1992. Zu Vlamincks Van-Gogh-Rezeption im Besonderen siehe den Katalog-Beitrag von Lisa Smit, S. 40–49. Über Einflüsse der Impressionisten und Neoimpressionisten, deren Bildsprache für viele junge Künstler um 1900 ein wichtiger Referenzpunkt blieb, schwieg sich Vlaminck hingegen aus. Dieser Beitrag beleuchtet Vlamincks Rolle als Neuerer und Innovator mit Blick auf die Bedeutung, die die Fauvisten der Farbe als expressivem Bildmittel zusprachen. Dabei verortet er Vlamincks Malerei zugleich im erweiterten Kontext der französischen Avantgarde seiner Zeit und der zahlreichen Anleihen und künstlerischen Referenzpunkte, die seinen fauvistischen Werdegang befeuerten.
Wagnis der Natur
Vor seiner Teilnahme am Salon d’Automne von 1905 hatte Vlaminck erst auf zwei Ausstellungen Bilder gezeigt – 1904 in der aufstrebenden Galerie von Berthe Weill in Paris und 1905 auf dem Salon des Indépendants. Angesichts dieser Tatsache überrascht es kaum, dass die fünf Landschaftsbilder, die er auf dem Herbstsalon neben Gemälden von Henri Matisse, André Derain, Kees van Dongen und anderen bald als „Fauvisten“ geläufigen Künstlern zeigte, vergleichsweise wenig rezipiert wurden.3Bei den Vlaminck-Exponaten handelte es sich um folgende Gemälde: Das Tal von Port-Marly (Abb. S. 27), Dämmerung (Kat. 7), Park in Carrières-Saint-Denis (Kat. 8), Das Haus meines Vaters (Abb. S. 27) und Der Teich von Saint-Cucufa (1903, Privatsammlung). In der Berichterstattung zur Ausstellung, auf der 1625 Arbeiten von 397 Künstlerinnen und Künstlern gezeigt wurden, kam den jungen, im siebten Raum versammelten Malern jedoch überproportional viel – und weitgehend negative – Aufmerksamkeit zu.4Die Reaktion der Kunstkritik auf die Ausstellung der Fauvisten im Salon d’Automne von 1905 wird ausführlich analysiert in Roger Benjamin: Fauves in the Landscape of Criticism. Metaphor and Scandal at the Salon, in: Los Angeles 1990, S. 241–268; Schieder 1999; sowie Ann Dumas: The Salon d’Automne of 1905. A Baptism of Fire, in: New York 2023, S. 49–60. Die Maler selbst hatten sich keineswegs als Gruppe oder Gemeinschaft verstanden und die Zusammenschau ihrer Werke als solche weder strategisch geplant noch beeinflusst. Nur auf Entscheidung des organisierenden Komitees waren die Gemälde in einem Raum nebeneinander zu sehen und luden Besucher und Kritiker in der konzentrierten Zusammenschau ein, stilistische Affinitäten zu entdecken. Gemeinsamer Nenner waren ein dezidiert antiakademischer Bildaufbau und ein selbst für die Konventionen der Neoimpressionisten – damals noch die tonangebende Avantgarde – zügelloser Einsatz leuchtender Reinfarben.
Der einflussreiche Kritiker Louis Vauxcelles identifizierte Matisse als Anführer einer neuen Richtung in der französischen Malerei, deren Bilder ihm wie farbige Orgien erschienen. In einer Besprechung in der Zeitschrift Gil Blas beschrieb er den besagten Raum der Ausstellung als einen „cage aux fauves“ (Käfig wilder Bestien) und scherzte über den deplatzierten Eindruck, den eine klassisch modellierte Skulptur von Albert Marque inmitten der farbintensiven Gemälde machte: „Donatello unter den Wilden“.5Vauxcelles 1905, o. S. Vauxcelles, der Matisse durchaus gewogen war, legte mit seinem Artikel den Grundstein für eine Ambivalenz gegenüber dem Fauvismus, die für die Rezeption der Bewegung prägend bleiben sollte. So konnte das Attribut der Wildheit pejorativ gebraucht werden, etwa im Sinn einer groben oder gar barbarischen Malerei ohne technisches Können; oder aber positiv als mutige Neuerung verstanden werden, die sterile akademische Konvention durch eine Aufwertung des Emotionalen und Instinktiven zu ersetzen suchte. Eine solch neue Wertschätzung des Individuellen und Expressiven wurde im Paris des frühen 20. Jahrhunderts von der Pluralisierung moderner Kunstrichtungen angefacht, die gleichzeitig um Legitimation rivalisierten – darunter neben dem Impressionismus und Neoimpressionismus die Gruppe der Nabis, die Symbolisten oder Einzelgänger wie die Postimpressionisten Paul Cézanne und Vincent van Gogh, deren Œuvres langsam, aber sicher Eingang in einen zusehends kodifizierten Kanon des 19. Jahrhunderts fanden.
Für Vlaminck, der zunächst über seine Freundschaft mit Derain und die eher flüchtige Bekanntschaft mit Matisse losen Anschluss an die Pariser Avantgarde gefunden hatte, bedeutete die Einordnung seiner Gemälde in eine von außen als Kollektiv wahrgenommene Bewegung einen Glücksfall. Hatten Kollegen wie Matisse als Schüler Gustave Moreaus an der École des Beaux-Arts eine klassische Ausbildung durchlaufen, so war Vlaminck als Autodidakt zur Malerei gekommen. Bis zur Formierung des Fauvismus als loses Künstlerkollektiv hatte er seinen Lebensunterhalt als Radrennfahrer, Boxer und Violinist verdient. Selbst nachdem er 1900 zeitweilig ein Atelier mit Derain in Chatou bezogen hatte, war er gegenüber der Malerei als Beruf zunächst ambivalent geblieben: „Ich malte, um wieder Ordnung in meine Gedanken zu bringen, meine Wünsche zu beruhigen, überhaupt, um ein wenig Reinheit in mein Herz zu lassen“, schrieb er rückblickend in Tournant dangereux, und führte weiter aus: „Die Idee, Maler zu werden, streifte mich nie. Die Malerei als Laufbahn betrachtet – ich hätte sehr gelacht, wenn man mir damit gekommen wäre. Maler sein ist kein Beruf, nicht mehr Beruf, als Anarchist sein, Liebhaber, Rennfahrer, Träumer oder Boxer. Es ist ein Wagnis der Natur, ein Wagnis.“6Vlaminck 1959, S. 64.
Das beeindruckende Medienecho, das die fauvistischen Arbeiten auf dem Salon d’Automne auslösten, festigte die Stellung der jungen Maler im heiß umkämpften Pariser Kunstbetrieb, wo sie bald von einflussreichen Förderern wie dem Galeristen Ambroise Vollard unterstützt wurden.7Zur Etablierung der Fauvisten auf dem Pariser Kunstmarkt siehe Peter Kropmanns: Die Fauves und der Pariser Kunsthandel, in: Basel 2023, S. 17–26. Die Wahrnehmung der Malerei Vlamincks und seiner Kollegen als radikaler Bruch mit dem Erbe des 19. Jahrhunderts – und damit auch als avantgardistische Neuerung – lag nicht nur in ihrer bis dato unbekannten Vorliebe für grelle Farben begründet. Wichtiger noch war ihre oft willkürliche Wahl von Tönen, die Bildmotive nicht mehr abbilden und nachahmen, sondern in Mittler subjektiver Empfindung verwandeln sollten – ein Schritt, mit dem sie zentrale Prämissen der expressionistischen Malerei vorwegnahmen. Die gängige Assoziation ihrer farbintensiven Kompositionen mit Wildheit und Exzess war in der akademischen Tradition verankert, die einem seit der Renaissance überlieferten Ideensystem folgte und Kompositionen mit klar umrissenen Konturen sowie harmonisch ausgewogenen Tönen favorisierte. War die Form im Sinn von disegno (ital. für Zeichnung, aber auch Bildfindung oder Bildanlage) primär mit der erhabenen Welt des Geistes und des Ideellen assoziiert, so galt die Farbe (colore) als Ausdruck des Körperlichen und Emotionalen.8Über den Vorrang von Farbe oder Form entbrannte bereits im 16. Jahrhundert eine umfangreiche Debatte, die als „Disegno e colore“ in die Kunstgeschichte eingegangen ist und im 19. Jahrhundert intensiv neu verhandelt wurde. Siehe hierzu u. a. Jonas Gavel: Colour. A Study of Its Position in the Art Theory of the Quattrocento and Cinquecento, Phil. Diss. Stockholm 1979; Maurice Poirier: The Disegno-Colore Controversy Reconsidered, in: Explorations in Renaissance Culture 13 (1987), S. 52–86; Thomas Puttfarken: The Dispute about Disegno and Colorito in Venice. Paolo Pino, Lodovico Dolce and Titian, in: Kunst und Kunsttheorie, 1400–1900, hrsg. von Peter Ganz u. a., Wiesbaden 1991, S. 75–99; John Gage: Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart, Ravensburg 1994; Steffi Roettgen: Venedig oder Rom – Disegno e Colore. Ein Topos der Kunstkritik und seine Folgen, in: zeitenblicke 2 (2003), Nr. 3 (10.12.2003), https://www.zeitenblicke.de/2003/03/roettgen.htm (abgerufen am 2.1.2024).
Viele der Fauvisten äußerten die Anliegen ihrer Malerei darüber hinaus in einer Terminologie, die einen bewussten Angriff auf die kunsthistorische Tradition nahelegt. So beschrieb Derain die Farben der Fauvisten als „Dynamitpatronen“, die die visuelle Erfahrung des reinen Lichts sinnlich fassbar machen sollten.9André Derain zit. n. Duthuit 1929b, S. 268. Vlaminck, der während seines Militärdiensts von 1897 bis 1900 zu einem glühenden Anhänger des Anarchismus geworden war, postulierte seinen Hang zu ungestümer Farbigkeit rückblickend als das Ergebnis eines rein subjektiven und in diesem Sinn auch antiakademischen und antiintellektuellen Kunstverständnisses. In einer der wenigen Passagen von Tournant dangereux, in der er zur Malerei des Fauvismus ausführlicher Stellung bezog, schrieb er mit unverkennbarem Pathos: „Meine Leidenschaft drängte mich zu allen gewagten Kühnheiten gegen das Herkömmliche in der Malerei. Ich wollte eine Revolution in den Sitten, im täglichen Leben hervorrufen, die ungebundene Natur zeigen, sie befreien von den alten Theorien und dem Klassizismus, deren Macht ich gleichermaßen verabscheute wie jene der Generale und Obersten. […] Ich übertrieb alle Töne. Ich verwandelte alle mir irgend wahrnehmbaren Gefühle in einen Rausch reiner Farben. Ich war ein verliebter, ein ungestümer Barbar. […] Keiner Methode verschrieben, galt mir nicht eine künstlerische, sondern eine menschliche Wahrheit.“10Vlaminck 1959, S. 75. Vlamincks Wahl von Ausdrücken wie „Leidenschaft“ und „verliebt“ sollte das Kolorit der Fauvisten im Bereich des Emotionalen und Instinktiven verorten – stilsicher inszeniert als heroische Abwendung vom Regelwerk der Akademien.
Groteske Überzeichnung
Zu den Exponaten des Salon d’Automne, deren ungestüme Farbigkeit am meisten schockierte, gehörte Matisse’ Frau mit Hut von 1905 (Abb. 1)– ein in Pastelltönen flächig gestaltetes Portrait seiner Frau Amélie, das bald darauf der amerikanische Sammler Leo Stein erwarb. Es ist anzunehmen, dass die mediale Aufmerksamkeit, die Matisse’ Bild erregte, Vlaminck zur Bearbeitung des gleichen Sujets anspornte (Abb. 2)– auch wenn Vlaminck eine solch direkte Einflussnahme vonseiten seiner fauvistischen Kollegen, insbesondere von Matisse, sicherlich negiert hätte. Für seine Darstellung Amélies hatte Matisse ein Dreiviertelprofil gewählt und mit der leichten Drehung ihres Kopfes ein dynamisches Moment in die Komposition einbezogen. Vlaminck wählte hingegen eine frontale Sicht, durch die er die flächige Gestaltung des Bildraums effektvoll dramatisierte. Obwohl sich die Konturen des Körpers durch die dunkelblauen und schwarzen Striche vom umliegenden Raum abheben, fehlt es der Figur an Volumen. Ein Eindruck räumlicher Tiefe deutet sich allein durch das Oval des leicht nach vorn geneigten Hutes an. Das Gesicht der Frau gestaltete Vlaminck mit groben, breiten Pinselstrichen in Rosa und Cremeweiß, wobei das Kirschrot der Lippen einen markanten Akzent in der Bildmitte setzt. Den Hintergrund beleben energisch gesetzte Pinselstriche in Weiß, Grün und Blau, deren diagonale Führung mit dem horizontal geschwungenen Duktus im Bereich der Kleidung kontrastiert. Selbst im Vergleich mit anderen Werken der Fauves irritiert das Gemälde mit seiner scheinbar unfertigen, skizzenhaften Bildwirkung – die offene Struktur der sichtbaren, haptischen Pinselstriche widersetzt sich eklatant dem akademischen Ideal der geschlossenen, glatten Oberfläche, dem sogenannten fini.
Bleibt die soziale Stellung der Portraitierten im Fall von Vlamincks Frau mit Hut ungewiss, so fertigte er nahezu zeitgleich mehrere Figurenbilder, für die unmissverständlich Frauen aus der Pariser Demimonde Modell standen. Viele von ihnen zeigen Darstellerinnen aus dem berüchtigten Kabarett Le Rat mort, die sich ihren Unterhalt häufig auch mit Prostitution verdienten. Das Thema großstädtischer Sexarbeit war Ende des 19. Jahrhunderts bereits von Künstlern wie Edgar Degas und Édouard Manet aufgegriffen worden und besonders mit Henri de Toulouse-Lautrec assoziiert – ein Maler, der in den 1890er Jahren auch das Rat mort in den Blick genommen hatte. Die zahlreichen Gemälde, die Vlaminck und fauvistische Kollegen wie André Derain oder Kees van Dongen dem Sujet widmeten, folgten entsprechend einer bereits im Fin de Siècle etablierten Bildtradition.11Zur Aktmalerei der Fauvisten siehe Herbert 1992, bes. Kapitel 2 („Mirroring the Nude“), S. 56–81. Zum sozialpolitischen Kontext fauvistischer Bordellszenen siehe Gabrielle Houbre: Mit und ohne Fauves – Blicke auf die Prostitution in den Jahren 1900–1910, in: Basel 2023, S. 37–44. Für allgemeinere Untersuchungen zur Prostitution in der französischen Avantgardemalerei des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts siehe Bordell und Boudoir. Schauplätze der Moderne. Cézanne, Degas, Toulouse-Lautrec, Picasso, Ausst.-Kat. Kunsthalle Tübingen, 2005; sowie Splendeurs et misères. Images de la prostitution, 1850–1910, Ausst.-Kat. Musée d’Orsay, Paris 2015.
Vlamincks Liegender Akt (Abb. 3) von 1905 zeigt exemplarisch das Moment grotesker Überzeichnung, das für seine Darstellung weiblicher Akte charakteristisch ist. Das Inkarnat der Figur ist in satten Rosatönen gehalten, von denen sich das leuchtende Rot der schwulstigen Brustwarzen verstörend auffällig absetzt. Das weiß gepuderte, stark geschminkte Gesicht scheint mit seinem starren Ausdruck seltsam puppenhaft. Der abstrakt gehaltene Umraum wirkt durch den Komplementärkontrast aus Blau- und Orangetönen uneinladend und schrill. Entgegen ihrer lasziven Pose versperrt sich das Bild der nackten Frau einer erotischen Vereinnahmung durch den männlichen Blick. Vlamincks fauvistischer Angriff auf das bis zu Venusdarstellungen der Renaissance zurückreichende Genre zeigt sich auf vergleichbar parodistische Weise in dem Gemälde Liegender Akt (Abb. 4). Das ebenfalls 1905 ausgeführte Werk erinnert nicht von ungefähr an Manets Olympia von 1863 (Abb. 5)– ein Skandalbild des 19. Jahrhunderts, das aufs Engste mit dem avantgardistischen Streben nach stilistischer und künstlerischer Neuerung assoziiert war.12Zum Skandal, den die Olympia im Salon von 1865 hervorrief, siehe Beatrice Farwell: Manet and the Nude. A Study in Iconography in the Second Empire, Phil. Diss. New York 1981; Hans Körner: Anstößige Nacktheit. „Das Frühstück im Freien“ und die „Olympia“ von E. Manet, in: Streit um Bilder. Von Byzanz bis Duchamp, hrsg. von Karl Möseneder, Berlin 1997, S. 181–199; Dino Heicker: Manet, ein Streit und die Geburt der modernen Malerei. Ein Lesebuch zum Pariser Salon von 1865, Berlin 2015. Hatte Manet mit seiner Darstellung der 19-jährigen Victorine Meurent eine Bildtradition Alter Meister von Tizian über Francisco de Goya und Jean-Auguste-Dominique Ingres aufgerufen, so zitierte Vlaminck die große Vaterfigur der französischen Moderne, der der Salon d’Automne im selben Jahr unter dem Motto „Der Revolutionär von heute ist der Klassiker von morgen“ eine Retrospektive mit 31 Arbeiten widmete. Das kühle Inkarnat der Olympia und ihr jugendlich anziehender Körper weichen in Vlamincks Werk einem schmutzigen Kreideweiß, dessen kränkliche Blässe durch den Kontrast mit den umliegenden Rot- und Schwarztönen gesteigert wird. Stärker noch als im anderen Liegenden Akt scheint der Körper leblos und ungelenk, das den Betrachtern herausfordernd zugewandte Gesicht unzugänglich, steinern und starr.
Die ungeschlachten Glieder sowie maskenhaften Gesichter in Vlamincks Figurenbildern waren von seinem Interesse für afrikanische Statuetten beeinflusst, die er mit Begeisterung sammelte. Ähnlich wie Werke ,naiver‘ Kunst oder die nicht perspektivische Malerei des Mittelalters – insbesondere die der sogenannten primitifs français des 15. Jahrhunderts – sahen die Fauves nicht westliche Artefakte als Inspirationsquelle für eine emotionsgeladene Neuerung der modernen Malerei.13Zum „Primitivismus“ der Fauvisten in Anlehnung an afrikanische Kunst siehe Rolf Wedewer: Form und Bedeutung. Primitivismus, Moderne, Fremdheit, Köln 2000; Primitivism and Twentieth-Century Art. A Documentary History, hrsg. von Jack D. Flam, Berkeley 2003; Roger Benjamin: Orientalist Aesthetics. Art, Colonialism, and French North Africa, 1880–1930, Berkeley 2003; Joshua I. Cohen: Rethinking Fauve „Primitivism“, in: ders.: The „Black Art“ Renaissance. African Sculpture and Modernism Across Continents, Oakland 2020, S. 23–54; sowie Maureen Murphy: Von der Nähe des Fernen. Für eine „Kunstgeschichte zu gleichen Teilen“, in: Basel 2023, S. 51–60. In Vlamincks fauvistischem Schaffen zeigt sich dieser Prozess der kulturellen Aneignung am deutlichsten in dem radikal abstrakt wirkenden Gemälde Roter Akt, das erneut einen stilistischen Dialog mit Matisse nahelegt. Der schematisch gestaltete Kopf der sitzenden Figur war vermutlich von einer Maske der Fang aus dem zentralafrikanischen Gabun inspiriert, die Vlaminck im Entstehungsjahr des Gemäldes erworben hatte.14Siehe Vlaminck 1965, S. 80. Wie in seinem im folgenden Jahr ausgeführten Portrait André Derains mag Vlaminck auch hier das tiefe Rot nicht nur als visuelles Reizmittel gewählt haben, sondern auch als Symbolfarbe für sein programmatisches Bekenntnis zu Wildheit und Exotik.
Explosive Bildräume
Während sich neben Vlaminck auch zahlreiche seiner fauvistischen Kollegen mit Figurenbildern befassten, war die Bewegung seit ihrer Taufe auf dem Herbstsalon von 1905 besonders mit der Landschaftsmalerei assoziiert. Viele der Künstler ließen sich von Reisen nach Südfrankreich inspirieren und nutzten das gleißende Licht der Côte d’Azur als Katalysator für ihre grell leuchtende Bildgestaltung.15Zur Bedeutung Südfrankreichs und des Lichts der Côte d’Azur für die Malerei des Fauvismus siehe James D. Herbert: Painters and Tourists. Matisse and Derain on the Mediterranean Shore, in: Los Angeles 1990, S. 153–176; sowie Dita Amory: Reinventing Color in Collioure (1905), in: New York 2023, S. 19–28. Zu den frühen Schlüsselwerken von Matisse gehört das ambitionierte Bild Luxus, Ruhe und Wollust von 1904 (Abb. 6), das stilistisch noch der Malweise der Neoimpressionisten verschrieben ist. Eine Gruppe nackter Figuren hat sich am von der untergehenden Abendsonne beleuchtenden Strand eingefunden, dekorativ versammelt um eine weiße Picknickdecke. Umspielt werden die Figuren von juwelenartig leuchtenden Farben, die der südlichen Abendszene eine weltentrückte Atmosphäre verleihen. Anregung zu der Bildfindung hatte Matisse aus einem Aufenthalt an der Côte d’Azur bezogen, wo er sich im Sommer 1904 mit Kollegen wie Paul Signac und Henri-Edmond Cross hatte austauschen können. So verwundert es kaum, dass Matisse’ Bild stilistisch und kompositorisch Cross’ um 1893 entstandenem Werk Abendlied nahesteht (Abb. 7)– eine Hommage an den Zauber des Südens, die er in Signacs Villa La Hune in Saint-Tropez hatte sehen können.16Daniel Zamani: „Das Glück malen“? Zu den Landschaftsdarstellungen von Henri-Edmond Cross, in: Potsdam 2018, S. 36–45, hier S. 41.
Das Thema menschlicher Muße in einer Paradieslandschaft griff Matisse 1905/06 während des Zenits fauvistischen Experimentierens erneut auf. In dem monumentalen Werk Die Lebensfreude von 1905/06 sind unbekleidete Frauen und Männer zu sehen, die tanzen, musizieren und müßiggehen, sanft eingebettet in eine sonnenbeschienene Landschaft in leuchtenden Reinfarben. Themen wie die harmonische Einheit von Mensch und Natur sowie die Heraufbeschwörung eines Goldenen Zeitalters entsprachen einem Interesse an Naturutopien, das bereits für viele Bildfindungen der Neoimpressionisten charakteristisch war. Durch motivische Fingerzeige wie die Reigen tanzende Figurengruppe im Zentrum des Hintergrunds erhöhte Matisse die Affinität zu klassischen Bildgattungen wie der Fête galante (galantes Fest) oder dem Déjeuner champêtre (ländliches Mittagessen) – und, in einem allgemeineren Sinn, Anspielungen auf die Tradition der Pastorale.17Zur Bedeutung des Mittelmeers für die Neoimpressionisten und den avantgardistischen Rückgriff auf die Tradition der Pastorale siehe Claudine Grammont: Lux(e), in: Le Grand Atelier du Midi. De Cézanne à Matisse, Ausst.-Kat. Musée Granet, Aix-en-Provence 2013, S. 134–164. Für seine monumentale Komposition, die Matisse erstmals auf dem von den Fauvisten dominierten Salon d’Automne von 1906 zeigte, hatte der Künstler zahlreiche Studien angefertigt, um das komplexe Figurenprogramm minutiös vorzubereiten.
Auch in Vlamincks fauvistischen Arbeiten scheint die Natur oft symbolisch aufgeladen und mit positiven Werten wie Vitalität, Nahrung und menschlichem Schutz belegt. Dabei könnte Matisse’ räumlich fein austariertes Programmbild nicht weiter entfernt sein von den ungestümexpressiven Naturdarstellungen mittleren Formats, die Vlamincks Schaffen bestimmten. Statt eine an kunsthistorischen und literarischen Allusionen reiche Ideallandschaft zu konzipieren, lag sein Fokus auf dem heimischen Seinetal in der Nähe von Paris, das er in zahlreichen Ansichten der Landschaft rund um Bougival, Rueil, Chatou und Argenteuil in den Blick nahm.18Zu Vlamincks malerischer Untersuchung des Seinetales siehe den Beitrag von Jacqueline Hartwig, S. 114–117. In diesen Darstellungen realer, situativ und sur le motif erforschter Orte ging es Vlaminck um das Hier und Jetzt einer unspektakulären Natur, der er mit seinen grell überzeichneten Farben, ausgeprägten tonalen Kontrasten und energischen, stark texturierten Oberflächen eine geradezu explosive Raumwirkung abgewinnen konnte.
Erbe des Impressionismus
Mit seiner malerischen Untersuchung des Seinetals verschrieb sich Vlaminck einer Topographie, die eng mit dem Erbe des Impressionismus verbunden war und die vor ihm bereits Maler wie Claude Monet, Pierre-Auguste Renoir und Gustave Caillebotte erforscht hatten.19Zur Rolle der Seinelandschaft in der Malerei des französischen Impressionismus und Postimpressionismus siehe Impressionists on the Seine. A Celebration of Renoir’s Luncheon of the Boating Party, Ausst.-Kat. The Phillips Collection, Washington, D. C., 1996; Monet. The Seine and the Sea, Ausst.-Kat. National Galleries of Scotland, Edinburgh 2003; Regardez, Monsieur Monet … comme la Seine a changé!, Ausst.-Kat. Espace André Graillot, Le Havre 2013; Monet and the Seine. Impressions of a River, Ausst.-Kat. Philbrook Museum of Art, Tulsa 2014; Van Gogh and the Avant-Garde. Along the Seine, Ausst.-Kat. Van Gogh Museum, Amsterdam 2023. Wie diese ältere Künstlergeneration zeigte auch Vlaminck die Seine als multivalenten Ort – Gegend für Zeitvertreib und Muße im Freien und zugleich symbolische Chiffre für technologischen Fortschritt, Modernisierung und die rapide voranschreitende Industrialisierung rund um Paris. Darstellungen einsamer Ruderer, auf dem Fluss sanft dahingleitender Segelboote oder sommerlicher Regatten stehen in seinem Œuvre Ansichten moderner Brückenbauten und imposanter Industrieanlagen gegenüber. Eine künstlerische Nähe zum Erbe des späten 19. Jahrhunderts zeigt sich neben der Motivik zuweilen auch im Rückgriff auf eine skizzenhafte Erfassung der Bildgegenstände sowie eine Pinselführung, die die tache der Impressionisten oder das pointillé der jüngeren Neoimpressionisten in Erinnerung ruft.
Eine entscheidende Abgrenzung von der Motivwahl seiner älteren Kollegen zeigt sich in Vlamincks Abwendung von bürgerlichen Sujets – Themen, die für die Kunst des Impressionismus maßgeblich waren. Monet und Renoir etwa hatten die Seine immer wieder als Hotspot bürgerlichen Freizeitvergnügens dargestellt und damit für eine bestimmte Klasse und in erweitertem Sinn auch für eine bestimmte Klientel motivisch besetzt. Ein Paradebeispiel hierfür ist Renoirs großformatiges Schlüsselwerk Frühstück der Ruderer (Phillips Collection, Washington, D. C.), das er 1880/81 angefertigt hatte und das die ausgelassene Stimmung großstädtischer Ausflügler im Restaurant Fournaise – unweit von Vlamincks späterem Atelier – zeigt. Lassen sich die Figuren in Renoirs Werk anhand der modisch eleganten Kleider unschwer als bürgerliche Tagestouristen identifizieren, so findet die Bourgeoisie keinerlei Platz in Vlamincks Landschaftsbildern. Eine vielsagende Ausnahme ist das Gemälde Das ländliche Frühstück (Abb. 8), dessen satirehafte Züge an die Karikatur grenzen: Erweckt der Bildtitel Erwartungen an eine idyllische Darstellung pastoraler Muße à la Manets Frühstück im Grünen (Abb. 9), so erzeugen die grelle Farbgestaltung und verzerrte Perspektive eine befremdliche, ja dissonante Grundstimmung. Die apathisch dreinblickenden Frauen in weißen Kleidern und Strohhüten erinnern vage an Edgar Degas’ Absinthtrinker, während die Kost der rastenden Gruppe auf die zwei mittig platzierten Weinflaschen reduziert ist.20Zu einem Vergleich der Arbeiten von Renoir und Vlaminck siehe Herbert 1992, S. 20 f.
Wirken die bürgerlichen Figuren hier wie Fremdkörper in einem wirren Farbgeflecht, so zeigt Vlaminck die Natur sonst oft als vitalen Schutzraum, in den menschliche Gestalten friedvoll und harmonisch eingebettet sind. Auffällig viele Gemälde behandeln Fruchtbarkeit und Ackerbau – Sujets, mit denen sich auch Vlamincks großes Vorbild Van Gogh in zahlreichen Darstellungen auseinandergesetzt hatte. Ein Motiv, das Van Gogh mehrfach behandelte, waren üppige Weizenfelder, deren goldleuchtende Ähren er vor dem frischen Blau des sommerlichen Himmels inszenierte, ebenso wie Schnitter, Sämänner und Bauern, die das Land in einsamer Ruhe bestellen (Abb. 10).21Zu Van Goghs Anverwandlung traditioneller Bauernmotive wie dem Weizenfeld oder dem Sämann siehe Monica Juneja: Peindre le paysan. L’Image rurale dans la peinture française de Millet à Van Gogh, Paris 1998; Van Gogh’s Sheaves of Wheat, Ausst.-Kat. Dallas Museum of Art, 2006; Jean-François Millet. Sowing the Seeds of Modern Art, Ausst.-Kat. Van Gogh Museum, Amsterdam 2019; sowie Ceux de la terre. La Figure du paysan, de Courbet à Van Gogh, Ausst.-Kat. Musée Gustave Courbet, Ornans 2022. In Kompositionen, die auch stilistisch an Van Gogh erinnern, griff Vlaminck diese Themen auf – Sujets, deren Fokus auf Landarbeit auch die rustikalen Landschaftsbilder realistischer Maler wie Jean-François Millet in Erinnerung rufen.
Die intensive Rezeption von Van Goghs Malerei setzte in Frankreich im frühen 20. Jahrhundert ein und legte auch einen Fokus auf sein ausgeprägtes Interesse an der Motivik des einfachen Landlebens.22Herbert 1992, S. 27 f. Aufgrund seiner zahlreichen Darstellungen rustikaler Sujets wurde Van Gogh als Maler des einfachen Volkes gefeiert, seine Kunst als naturverbunden und unverfälscht interpretiert.23Ebd., S. 27 f. Vlaminck, der sich zeit seines Lebens als künstlerischer und sozialer Rebell inszenierte, mochte in dieser Lesart von Van Goghs Kunst eine weitere Identifikationsebene gefunden haben – und in seinem eigenen Fokus auf das Landleben fernab der Pariser High Society ein geeignetes Ventil für seine sozialkritische und dezidiert antibürgerliche Grundhaltung.
Darüber hinaus sah Vlaminck in Van Goghs Malerei eine „revolutionäre Kraft“ sowie ein „fast religiöses Gefühl der Natur gegenüber“.24Vlaminck 1965, S. 22 f. Ein solch pantheistischer Blick auf die Natur als geheimnisvoll beseelte Kraft mag auch Vlamincks eigener Malerei zugrunde gelegen haben. So bediente er sich in zahlreichen Landschaftsbildern verschiedener Stilmittel, um pulsierende, spannungsgeladene Bildräume zu schaffen, die unmittelbar den Eindruck ungezügelter Vitalität hervorrufen – oft in komplexen Kompositionen, die die Idee einer rein „instinktiven“, „barbarischen“ und damit unüberlegten Malerei Lügen strafen. In Blick auf Bougival (Abb. 11) etwa wählte der Künstler eine dramatische Aufsicht auf das Dorf in der Ebene, das unter dem stürmisch bewegten, in dynamischen Pinselstrichen gestalteten Wolkenhimmel seltsam gedrungen wirkt. Bei der üppigen Vegetation im Vordergrund variierte Vlaminck wie so oft die Richtung der Strich- und Linienführung. Zusammen mit den ausgeprägten Komplementärkontrasten – Rot gegen Grün, Blau gegen Orange – erzeugt der sorgfältig differenzierte Pinselduktus den Eindruck eines explosiven Raumgefüges, in dem das Auge des Betrachters keinen Ruhepunkt auszumachen vermag.
Ein vergleichbar raffiniertes Kompositionsschema liegt Vlamincks Angler in Nanterre zugrunde: Erinnert die Oberfläche der Seine mit ihren kurzen Pinselstrichen aus leuchtenden Blau-Weiß-Tönen an die Mosaikstruktur neoimpressionistischer Malerei, so ist der bewegte Himmel in der oberen Bildhälfte freier gestaltet. Der mittig platzierte Schornstein der Fabrikanlage ragt als blutrote Spitze dramatisch in die Höhe und durchsticht als Reflexion auf der Flussoberfläche auch das kühlere Farbschema des Mittelgrunds. Als Echo und visuelle Klammer dient die Vegetation des Seineufers im Vordergrund, die sich als Bündel züngelnder Stichflammen auftürmt. Mit ihrer tonalen Intensität erinnert die Komposition an Derains bereits erwähnte Beschreibung fauvistischer Farben als „Dynamitpatronen“, die gleichsam auf der Leinwand explodieren und reines Licht entladen sollen.25André Derain zit. n. Duthuit 1929b, S. 268.
„Mit meinen Kobalt- und Zinnoberfarben wollte ich die École des Beaux-Arts niederbrennen und meine Gefühle mithilfe meiner Pinsel ausdrücken, ohne mich darum zu kümmern, wie die Malerei vor mir war […]. Das Leben und ich, ich und das Leben.“26Maurice de Vlaminck zit. n. ebd., S. 261. So äußerte sich Vlaminck 1928 rückblickend über die Ziele seiner fauvistischen Malerei und hob dabei die revolutionär neue Aufwertung reiner Farbe hervor. Die in ihrer anarchistischen Metaphorik raffiniert formulierte Aussage entsprach seiner lebenslangen Selbststilisierung als künstlerischer Umstürzler und Revolutionär, dem die kraftvolle Bildsprache des Fauvismus im Blut gelegen habe. Eine Einordnung seiner Malerei in die künstlerischen Strömungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zeigt über die Rezeption Van Goghs hinaus zahlreiche Bezugspunkte, aus denen sich seine innovativ neue Ausdrucksform speiste. Ein Ringen um technisches Können, ein geduldiges Sich-Einfühlen in die Malerei als Metier untermauerte dabei besonders seine fauvistischen Stillleben: geduldig im Atelier ausgeführte Etüden in Volumen, Raumgestaltung und Kolorit, die bereits die formal strengere, von Paul Cézanne inspirierte Malweise vorwegnahmen, der er sich ab 1907/08 verpflichtet fühlte.27Zu Vlamincks Cézanne-Rezeption siehe den Beitrag von Anna Storm, S. 50–57. Vlaminck selbst mag sich stets als Außenseiter und Einzelgänger inszeniert und als talentierter Autor auch früh an der eigenen Mythenbildung mitgewirkt haben. Als Künstler war er dennoch unvermeidlich von seiner Zeit geprägt.
Der Essay ist im Katalog zur Ausstellung Maurice de Vlaminck. Rebell der Moderne erschienen (Prestel, 2024).
Über den Autor
Daniel Zamani, seit Juli 2024 künstlerischer Leiter am Museum Frieder Burda in Baden-Baden; Promotion an der University of Cambridge über okkulte und mittelalterliche Themen im Werk von André Breton (2017); 2015–2017 zunächst wissenschaftlicher Volontär, dann wissenschaftlicher Mitarbeiter am Städel Museum in Frankfurt am Main; 2018–2024 Kurator am Museum Barberini, Potsdam; Herausgeber der Bücher Surrealism, Occultism, and Politics. In Search of the Marvellous (mit Tessel M. Bauduin und Victoria Ferentinou, 2018) und Visions of Enchantment. Occultism, Magic and Visual Culture (mit Merlin Cox und Judith Noble, 2019); Kurator bzw. Co-Kurator der Ausstellungen Matisse – Bonnard. Es lebe die Malerei! (2017), Farbe und Licht. Der Neoimpressionist Henri-Edmond Cross (2018), Monet. Orte (2020), Die Form der Freiheit. Internationale Abstraktion nach 1945 (2022) sowie Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne (2022).
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1Siehe Vlaminck 1929. Zu Vlamincks Interesse an Anarchismus und sozialer Revolution siehe Leighten 2007; Teubner 2022.
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2Zum Einfluss Van Goghs auf die Fauvisten im Allgemeinen siehe Giry 1990, bes. S. 282–288; sowie O’Laoghaire 1992. Zu Vlamincks Van-Gogh-Rezeption im Besonderen siehe den Katalog-Beitrag von Lisa Smit, S. 40–49.
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3Bei den Vlaminck-Exponaten handelte es sich um folgende Gemälde: Das Tal von Port-Marly (Abb. S. 27), Dämmerung (Kat. 7), Park in Carrières-Saint-Denis (Kat. 8), Das Haus meines Vaters (Abb. S. 27) und Der Teich von Saint-Cucufa (1903, Privatsammlung).
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4Die Reaktion der Kunstkritik auf die Ausstellung der Fauvisten im Salon d’Automne von 1905 wird ausführlich analysiert in Roger Benjamin: Fauves in the Landscape of Criticism. Metaphor and Scandal at the Salon, in: Los Angeles 1990, S. 241–268; Schieder 1999; sowie Ann Dumas: The Salon d’Automne of 1905. A Baptism of Fire, in: New York 2023, S. 49–60.
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5Vauxcelles 1905, o. S.
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6Vlaminck 1959, S. 64.
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7Zur Etablierung der Fauvisten auf dem Pariser Kunstmarkt siehe Peter Kropmanns: Die Fauves und der Pariser Kunsthandel, in: Basel 2023, S. 17–26.
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8Über den Vorrang von Farbe oder Form entbrannte bereits im 16. Jahrhundert eine umfangreiche Debatte, die als „Disegno e colore“ in die Kunstgeschichte eingegangen ist und im 19. Jahrhundert intensiv neu verhandelt wurde. Siehe hierzu u. a. Jonas Gavel: Colour. A Study of Its Position in the Art Theory of the Quattrocento and Cinquecento, Phil. Diss. Stockholm 1979; Maurice Poirier: The Disegno-Colore Controversy Reconsidered, in: Explorations in Renaissance Culture 13 (1987), S. 52–86; Thomas Puttfarken: The Dispute about Disegno and Colorito in Venice. Paolo Pino, Lodovico Dolce and Titian, in: Kunst und Kunsttheorie, 1400–1900, hrsg. von Peter Ganz u. a., Wiesbaden 1991, S. 75–99; John Gage: Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart, Ravensburg 1994; Steffi Roettgen: Venedig oder Rom – Disegno e Colore. Ein Topos der Kunstkritik und seine Folgen, in: zeitenblicke 2 (2003), Nr. 3 (10.12.2003), https://www.zeitenblicke.de/2003/03/roettgen.htm (abgerufen am 2.1.2024).
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9André Derain zit. n. Duthuit 1929b, S. 268.
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10Vlaminck 1959, S. 75.
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11Zur Aktmalerei der Fauvisten siehe Herbert 1992, bes. Kapitel 2 („Mirroring the Nude“), S. 56–81. Zum sozialpolitischen Kontext fauvistischer Bordellszenen siehe Gabrielle Houbre: Mit und ohne Fauves – Blicke auf die Prostitution in den Jahren 1900–1910, in: Basel 2023, S. 37–44. Für allgemeinere Untersuchungen zur Prostitution in der französischen Avantgardemalerei des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts siehe Bordell und Boudoir. Schauplätze der Moderne. Cézanne, Degas, Toulouse-Lautrec, Picasso, Ausst.-Kat. Kunsthalle Tübingen, 2005; sowie Splendeurs et misères. Images de la prostitution, 1850–1910, Ausst.-Kat. Musée d’Orsay, Paris 2015.
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12Zum Skandal, den die Olympia im Salon von 1865 hervorrief, siehe Beatrice Farwell: Manet and the Nude. A Study in Iconography in the Second Empire, Phil. Diss. New York 1981; Hans Körner: Anstößige Nacktheit. „Das Frühstück im Freien“ und die „Olympia“ von E. Manet, in: Streit um Bilder. Von Byzanz bis Duchamp, hrsg. von Karl Möseneder, Berlin 1997, S. 181–199; Dino Heicker: Manet, ein Streit und die Geburt der modernen Malerei. Ein Lesebuch zum Pariser Salon von 1865, Berlin 2015.
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13Zum „Primitivismus“ der Fauvisten in Anlehnung an afrikanische Kunst siehe Rolf Wedewer: Form und Bedeutung. Primitivismus, Moderne, Fremdheit, Köln 2000; Primitivism and Twentieth-Century Art. A Documentary History, hrsg. von Jack D. Flam, Berkeley 2003; Roger Benjamin: Orientalist Aesthetics. Art, Colonialism, and French North Africa, 1880–1930, Berkeley 2003; Joshua I. Cohen: Rethinking Fauve „Primitivism“, in: ders.: The „Black Art“ Renaissance. African Sculpture and Modernism Across Continents, Oakland 2020, S. 23–54; sowie Maureen Murphy: Von der Nähe des Fernen. Für eine „Kunstgeschichte zu gleichen Teilen“, in: Basel 2023, S. 51–60.
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14Siehe Vlaminck 1965, S. 80.
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15Zur Bedeutung Südfrankreichs und des Lichts der Côte d’Azur für die Malerei des Fauvismus siehe James D. Herbert: Painters and Tourists. Matisse and Derain on the Mediterranean Shore, in: Los Angeles 1990, S. 153–176; sowie Dita Amory: Reinventing Color in Collioure (1905), in: New York 2023, S. 19–28.
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16Daniel Zamani: „Das Glück malen“? Zu den Landschaftsdarstellungen von Henri-Edmond Cross, in: Potsdam 2018, S. 36–45, hier S. 41.
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17Zur Bedeutung des Mittelmeers für die Neoimpressionisten und den avantgardistischen Rückgriff auf die Tradition der Pastorale siehe Claudine Grammont: Lux(e), in: Le Grand Atelier du Midi. De Cézanne à Matisse, Ausst.-Kat. Musée Granet, Aix-en-Provence 2013, S. 134–164.
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18Zu Vlamincks malerischer Untersuchung des Seinetales siehe den Beitrag von Jacqueline Hartwig, S. 114–117.
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19Zur Rolle der Seinelandschaft in der Malerei des französischen Impressionismus und Postimpressionismus siehe Impressionists on the Seine. A Celebration of Renoir’s Luncheon of the Boating Party, Ausst.-Kat. The Phillips Collection, Washington, D. C., 1996; Monet. The Seine and the Sea, Ausst.-Kat. National Galleries of Scotland, Edinburgh 2003; Regardez, Monsieur Monet … comme la Seine a changé!, Ausst.-Kat. Espace André Graillot, Le Havre 2013; Monet and the Seine. Impressions of a River, Ausst.-Kat. Philbrook Museum of Art, Tulsa 2014; Van Gogh and the Avant-Garde. Along the Seine, Ausst.-Kat. Van Gogh Museum, Amsterdam 2023.
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20Zu einem Vergleich der Arbeiten von Renoir und Vlaminck siehe Herbert 1992, S. 20 f.
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21Zu Van Goghs Anverwandlung traditioneller Bauernmotive wie dem Weizenfeld oder dem Sämann siehe Monica Juneja: Peindre le paysan. L’Image rurale dans la peinture française de Millet à Van Gogh, Paris 1998; Van Gogh’s Sheaves of Wheat, Ausst.-Kat. Dallas Museum of Art, 2006; Jean-François Millet. Sowing the Seeds of Modern Art, Ausst.-Kat. Van Gogh Museum, Amsterdam 2019; sowie Ceux de la terre. La Figure du paysan, de Courbet à Van Gogh, Ausst.-Kat. Musée Gustave Courbet, Ornans 2022.
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22Herbert 1992, S. 27 f.
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23Ebd., S. 27 f.
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24Vlaminck 1965, S. 22 f.
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25André Derain zit. n. Duthuit 1929b, S. 268.
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26Maurice de Vlaminck zit. n. ebd., S. 261.
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27Zu Vlamincks Cézanne-Rezeption siehe den Beitrag von Anna Storm, S. 50–57.